Diversität (3): Reflexion & Verantwortungsbewusstsein

Sonja Buchberger

September 2018

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Diversität betrifft immer zwischenmenschliche Beziehungen. Daher bedarf es neben einer Beachtung der Vielfalt unter Studierenden auch eine Berücksichtigung jener der Lehrenden. Lehrpersonen sind inhärenter Teil der sozialen Beziehungen im Hörsaal oder Seminarraum; sie greifen nicht als außer-soziale Wesen in einen Zusammenhang ein und suchen nach dem geeigneten „Umgang“ mit einer Diversität, die vermeintlich nur Studierende betrifft.[1] Wie alle Menschen sind auch Lehrende sozio-strukturell geprägt.[2]

Beispielbox 1: Lehrende sind sozio-strukturell geprägt (Mögliche Auswirkungen auf die Lehre)

  • Eine Lehrende hört gern klassische Musik. In ihrer Lehrveranstaltung zu kulturellen Repräsentationen menschlicher Emotionen verweist sie häufig auf Opern zur besseren Illustration. Die meisten ihrer Studierenden haben jedoch keinen Bezug zu diesem Musikgenre und können den Beispielen nicht folgen.
  • In einer englischsprachigen Laborübung beobachtet die Lehrperson, dass mehrere Studierende lieber einander Fragen auf Deutsch stellen, als dieselben Fragen auf Englisch an die Lehrende zu richten. Die Lehrperson spricht nicht fließend Deutsch und erlebt die Situation als Belastung. (siehe auch „Teaching in Non-Native English“)

Eine selbstreflexive Haltung gehört zur Professionalität von Lehrenden. Ihr kommt eine hohe prognostische Bedeutung für den Lernerfolg der Studierenden zu.[3] Dies gilt insbesondere auch für die eigene Positionierung im sozio-kulturellen und sozio-ökonomischen Raum. „Der Blick auf sich selbst stellt eine wesentliche Voraussetzung dar, um in weiterer Folge ein Verständnis und einen stimmigen Umgang mit Menschen zu entwickeln, die sich von einem selbst in wesentlichen Aspekten unterscheiden“.[4]

Anregungen zur Selbstreflexion

  • Welche biografische Prägung bringe ich (mehr oder weniger bewusst) in die Lehre ein? (z.B. durch mein Alter, meinen Bildungsweg)
  • (Inwiefern) Beeinflusst die Diversität der Studierenden (erstens im Verhältnis zu mir, zweitens untereinander) meine Weise, ihnen zu begegnen?
  • Welche Resonanz auf mich und meine Lehrgestaltung nehme ich unter meinen Studierenden wahr?

Hinweis

Diversitätsbezogene Workshops können für Sie als Lehrperson ein hilfreiches Forum bieten, sich mit anderen Lehrenden auszutauschen, erlebte Situationen zu diskutieren und Anregungen von der Workshopleitung einzuholen. Eine Übersicht über alle Angebote finden Sie hier.

In engem Zusammenhang mit der eigenen biografischen Prägung von Lehrenden steht der mögliche eigene Beitrag zur Herstellung von Differenz oder zur Reproduktion von oftmals schablonenhaften Zuschreibungen.[5] Diversitätsbewusstsein von Lehrenden trägt dazu bei, diese Formen von doing difference[6] und etikettierenden Kategorisierungen selbst zu erkennen und zu vermeiden.

Beispielbox 2: Lehrende reproduzieren Zuschreibungen

  • Eine sozialwissenschaftliche Lehrveranstaltung befasst sich mit Freundschaft. In einer Einheit behandelt der Lehrende Hilfsbereitschaft und fließende Übergänge zu Phänomenen wie Klientelismus und Korruption. Um die Diskussion anzuregen, spricht er eine Studentin als Repräsentantin einer kollektiven (in diesem Fall nationalen) Identität an („Was denken Sie als Italienerin darüber?“). Er nimmt damit die mögliche Implikation in Kauf, dass sie aufgrund ihrer Nationalität eine spezifische Sichtweise auf Korruptionsfragen hätte.

Neben der eigenen Prägung erfahren Lehrende in ihrer Tätigkeit auch selbst Zuschreibungen – aufgrund von Alter, Geschlecht, (Macht-)Position, Namen, Sprachkenntnissen, Kleidung u.v.m.

Beispielbox 3: Lehrende erfahren oder vermuten Zuschreibungen

  • Eine Lehrende stößt auf Studien zur Korrelation zwischen Geschlecht und den Ergebnissen studentischer Lehrveranstaltungs-Evaluierungen.[7] Sie fragt sich, inwieweit ihr Geschlecht das Zutrauen in ihre (fachlichen und didaktischen) Fähigkeiten unter Studierenden beeinflusst.
  • Ein Universitätsassistent (Mitte Zwanzig) übernimmt direkt nach Masterabschluss seine erste Lehrveranstaltung. Er fragt sich, ob die Wortmeldungen einiger Studierender mit Bezug auf ihre eigene Berufserfahrung als Kritik an seiner beruflichen Unerfahrenheit zu verstehen sind.
  • Zwei Studierende merken in einer Seminareinheit an, dass der Lehrveranstaltungs-Leiter nicht geeignet wäre, eine Lehrveranstaltung zu Migrationsthemen zu halten, da er selbst „betroffen“ sei.

Hinweis

Wenn Sie als Lehrperson selbst Diskriminierung erfahren, können Sie sich an die Beratungsstelle Sexuelle Belästigung & Mobbing wenden. Weitere Anlaufstellen sind die arbeitspsychologische Beratung, das Bedrohungsmanagement, die Gleichbehandlungskommission, die Konfliktberatung sowie die Schiedskommission.

Lehrende haben Verantwortung, auf ein wertschätzendes Klima in der Lehrveranstaltung einzuwirken. Das stellt auch eine wichtige Präventionsmaßnahme gegen abwertendes Verhalten unter Studierenden dar. Im Fall von Diskriminierungsvorfällen und Konflikten ist es wichtig, dass Lehrende nicht wegschauen und auf der Grundlage der Achtung aller ihre Verantwortung im Bereich Diskriminierungsschutz wahrnehmen und situationsangemessen intervenieren. Das Klima in einer Gruppe hängt jedoch nie ausschließlich von der Lehrperson, sondern von allen Beteiligten ab.[8] Studierende tragen daher Mitverantwortung für eine positive Arbeitsatmosphäre.

Hinweis

Für Anregungen, wie Sie in konkreten Diskriminierungsfällen zwischen Studierenden vorgehen können, siehe die Handlungsempfehlungen für Lehrende der Abteilung Gleichstellung und Diversität.

Ein bewusstes Wahrnehmen der eigenen Verantwortung ist insbesondere bedeutsam, da Lehrende in ihrer Beziehung zu Studierenden statusüberlegen sind (z.B. durch Beurteilung). Auch die eigene fachliche Autorität kann auf manche bereits einschüchternd wirken. So kann beispielsweise die Verwendung der Fachsprache in Lehrveranstaltungen eine gewisse Unsicherheit verursachen, wenn Studierende erst schrittweise damit vertraut werden müssen. Je nach Charakter finden Lehrende unterschiedliche Wege, um diese strukturelle (unvermeidliche) Statusüberlegenheit über die Beziehungsebene zu relativieren. Freundliches Auftreten, eine wertschätzende lernförderliche Atmosphäre, ehrliches Interesse für Studierende oder auch Humor können hier viel bewirken.

Diversität in der Lehre umfasst komplexe Fragen und unvermeidbare Spannungsverhältnisse, die sich nicht sofort lösen lassen.[9] So kann etwa die Abwägung zwischen einer Ermöglichung unterschiedlicher Lernwege und der institutionell notwendigen Vereinheitlichung des Lernens schwerfallen. Besondere Bedürfnisse von Studierenden, die Effizienz und ein schnelles Vorankommen in der Lehrveranstaltung u.U. durchkreuzen, erfordern eine aufmerksame Wahrnehmung durch Lehrende. Diese Anforderungen können Anlass für Lehrpersonen sein, Grundsatzfragen über die Ausrichtung und den Sinn universitärer Lehre neu zu stellen und sich persönlich auf diese einzulassen. Dies kann beispielsweise zu einem vertieften Nachdenken über sinnvolle Studienziele im eigenen Fach führen.

Beispielbox 4: Diversität als Anlass für Abwägungen im Bereich Studienziele

  • Einem Seminarleiter ist das Studienziel, Wissenschaftssprache auch in Schriftform zu beherrschen, ein wichtiges Anliegen. Seine Gewichtung in der Beurteilung steht in einem bestimmten Verhältnis zu anderen Studienzielen derselben Lehrveranstaltung (z.B. Fähigkeit, Theorien in einem vergleichenden Rahmen zu diskutieren). Gegen Semesterende hält er einige Seminararbeiten in sprachlicher Hinsicht für überraschend schwach. Er möchte seine Qualitätsansprüche nicht beschneiden oder von den kommunizierten Beurteilungskriterien abkommen, wird sich jedoch bewusst, dass seine Anforderungen gerade für legasthenische oder fremdsprachige Studierende sehr hoch sein können. Der Lehrende fragt sich, ob die eloquent verfassten Arbeiten über manche inhaltliche Schwäche hinwegtäuschen. Er ist sich nicht sicher, ob er von schwächeren Arbeiten tatsächlich nicht mehr als (die im Vorfeld festgelegten und kommunizierten) 20 % für sprachliche Schwierigkeiten abzieht – was studienrechtlich problematisch wäre. Die Situation veranlasst ihn, vertieft über die Ausrichtung seiner Lehrveranstaltung sowie die Begründung der von ihm formulierten Studienziele (inklusive Gewichtung) nachzudenken.

Quellen

[1] Mecheril, Paul, und Andrea J. Vorrink. „Heterogenität. Sondierung einer (schul)pädagogischen Gemengelage“. In Heterogenität: Zur Konjunktur eines pädagogischen Konzepts, herausgegeben von Hans-Christoph Koller, Rita Casale, und Norbert Ricken. Schriftenreihe der Kommission Bildungs- und Erziehungsphilosophie in der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft. Paderborn: Schöningh, 2014, 87-114.

[2] Lahn, Ulrike. „Die widersprüchlich-markierten Körper der Forschenden – Selbstreflexionen über Situiertheit in intersektionell informierter Forschung und Lehre“. In Diversity konkret gemacht: Wege zur Gestaltung von Vielfalt an Hochschulen, herausgegeben von Daniela Heitzmann und Uta Klein. Weinheim und Basel: Beltz Juventa, 2012, 73-88.

[3] Hattie, John. Visible Learning: A synthesis of 800+ meta-analyses on achievement. London u.a.: Routledge, 2009; Wild, Elke, und Wiebke Esdar. Eine heterogenitätsorientierte Lehr-/Lernkultur für eine Hochschule der Zukunft. Fachgutachten im Auftrag des Projekts nexus der Hochschulrektorenkonferenz, Juni 2014.

[4] Baig, Samira. „Diversity sozialpsychologisch betrachtet“. In Diversity in Supervision, Coaching und Beratung, herausgegeben von Surur Abdul-Hussain und Samira Baig. Wien: Facultas, 2009, 61-91.

[5] Mecheril und Vorrink, „Heterogenität“ [1].

[6] West, Candace, und Sarah Fenstermaker. „Doing Difference”. In Gender & Society 9, Nr. 1 (1995), 8-37.

[7] Spiel, Christiane, und P. Martin Gössler. „Zum Einfluss von Biasvariablen auf die Bewertung universitärer Lehre durch Studierende“. In Zeitschrift für Pädagogische Psychologie. 14(1) 2000: 38-47; Viebahn, Peter. „Hochschullehrer/innen in der Interaktion mit Lernenden: Die Kategorie ‚Geschlecht‘“. In Gender Mainstreaming – Konsequenzen für Forschung, Studium und Lehre, herausgegeben von Marion Kamphans und Nicole Auferkorte-Michaelis. Studien Netzwerk Frauenforschung NRW Nr. 8, Dortmund, 2007, 317-329; Zentrum für Hochschul- und Qualitätsentwicklung. Ergebnisse geschlechtsspezifischer Auswertung studentischer Lehrveranstaltungsbewertung: Wirkungen des Geschlechts der Lehrenden auf die Lehrevaluation in ausgewählten Fächern der Geistes-, Gesellschafts- und Naturwissenschaften. Universität Duisburg Essen, 2008.

[8] Lipowsky, Frank. „Unterricht“. In Pädagogische Psychologie, herausgegeben von Elke Wild und Jens Möller. 2., völlig überarbeitete und aktualisierte Auflage, Berlin und Heidelberg: Springer, 2015, 69-105.

[9] Wildt, Johannes. Hochschuldidaktische Aspekte einer Reform der Studieneingangsphase. HIS-Veranstaltung „Übergang von der Schule in die Hochschule – Zugang zum Studium zwischen ‚Markt‘ und ‚Recht auf Bildung‘“, 30.01.2001. Verfügbar unter: docplayer.org/53735984-Hochschuldidaktische-aspekte-einer-reform-der-studieneingangsphase.html [letzter Zugriff: 22.10.2019].

Empfohlene Zitierweise

Buchberger, Sonja: Diversität (3): Reflexion & Verantwortungsbewusstsein. Infopool besser lehren. Center for Teaching and Learning, Universität Wien, September 2018. [https://infopool.univie.ac.at/startseite/zielgruppen-herausforderungen-chancen/diversitaet-3-reflexion-verantwortungsbewusstsein/]

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