Schriftliche Prüfungen mit offenem Antwortformat (3)

Heidi Niederkofler

August 2022

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Studierenden die Anforderungen begreiflich machen

"Bei offenen Aufgaben gibt es erhebliche Unterschiede in der Erwartung an den Text. Für die Textsorten, die in einer Klausur produziert werden sollen, gibt es mit wenigen Ausnahmen (Essay etwa) keine Benennungen. (...) [Studierende] sollen Texte erzeugen, die keine Sortenbezeichnung aufweisen, mithin nicht klassifiziert sind, somit nicht mit expliziten Merkmalen beschrieben sind. Die Studierende hat in der Klausur die Aufgabe, diese Textsorte selbst zu entwickeln und dabei die Erwartung der Lehrperson, die sie u. U. auch nicht kennt, zu treffen."[1]

Wie Lothar Bunn ausführt, sind Prüfungen mit offenen Antwortformaten nicht standardisiert. Zudem können Studierende nur bedingt auf bereits gemachte Erfahrungen zurückgreifen, da Prüfungsaufgaben recht unterschiedlich sein können. Auch mit dem Antwortformat Essay haben Studierende eher wenig Erfahrung. Verständliche Informationen über die Prüfung, die Aufgabenformate, die Anforderungen sowie Übungschancen unterstützen Studierende (ausführlicher hier). Zudem reduzieren Sie damit mögliche Prüfungsängste, die sich bereits bei mittlerer Ausprägung negativ auf die Prüfungsleistung auswirken können.[2] Folgende Unterstützungsmöglichkeiten haben sich bewährt:

  • Klare Kommunikation der Lernziele. Die Lernziele sollten sich in der Aufgabenstellung für die Prüfung, den Anforderungen und den Bewertungskriterien wiederfinden.
  • Die Formulierung von Prüfungsaufgaben kann Missverständnisse produzieren: Um diese für die Studierenden möglichst gering zu halten, erläutern und nutzen Sie die wichtigsten Handlungsverben der kognitiven Taxonomiestufen im Rahmen der Lehrveranstaltung bzw. führen Sie in der Aufgabenstellung aus, welche Arbeitsschritte damit verbunden sind.[3] (ausführlicher zur Aufgabenstellung hier)
  • Werden bei den Aufgabenstellungen längere gegliederte Texte erwartetet, kann ein Gliederungsmuster hilfreich sein (siehe Box unten).
  • Setzen Sie Probeprüfungen bzw. Beispielaufgaben als (freiwillige) Teilleistung ein-so können Sie das Lernen formativ unterstützen.
  • Vergleichen und besprechen Sie idealtypische Antworten/Lösungen in der Lehrveranstaltung. Studierende erhalten auf diese Weise eine gute Vorstellung der Anforderungen wie auch der Bestehensgrenze.
  • Review Session: Sehr hilfreich bei der Prüfungsvorbereitung für Studierende ist eine Einheit bzw. Teil einer Lehrveranstaltungseinheit, in der sie inhaltliche Fragen und Unklarheiten mit Ihnen besprechen können, die beim Lernen für die Prüfung aufgekommen sind.[4]
  • Eine weitere Unterstützungsmöglichkeit besteht darin, Ihren Studierenden verschiedene studentische Perspektiven auf Ihre Prüfungsanforderungen zu geben. Dazu bietet sich der "Brief an die Nachfolger*innen"[5] an: Sie bitten Ihre Studierenden, nach der Prüfung einen Brief mit ihrer Sicht auf Prüfungsanforderungen und Tipps zur Vorbereitung zu verfassen. Diese bzw. eine Auswahl davon geben Sie im Folgesemester den Studierenden mit auf den Lernweg. Voraussetzung ist, dass nach der Prüfung noch eine Lehrveranstaltungseinheit stattfindet oder die Abgabe erfolgt auf Moodle (bei prüfungsimmanenten Lehrveranstaltungen auch denkbar als kleine Teilleistung). Mit dieser Methode reflektieren die Verfasser*innen ihren Lernprozess und die zukünftigen Studierenden erhalten Empfehlungen von Kolleg*innen auf Augenhöhe.
  • Manche Lehrende richten in den letzten Tagen vor der Prüfung ein Online-Forum auf Moodle ein, in dem Studierende noch letzte Fragen stellen können. Wichtig ist, dass Sie die Kommunikationsregeln mitteilen: Wer reagiert auf Fragen? Sie als Lehrperson? Wie regelmäßig? Auch andere Studierende? Ausschließlich Studierende?

Tipp bei Take-Home-Prüfungen und bei Open-Book- bzw. Open-Web-Prüfungen: Weisen Sie Studierende explizit darauf hin, dass auch bei Prüfungsformaten ohne Aufsicht, bei denen sie die Zeit individuell einteilen können bzw. viele Hilfsmittel verwenden dürfen, eine intensive individuelle Vorbereitung notwendig ist, da die Prüfungsaufgaben komplex sind.[6] In diesen Fällen sind Beispielaufgaben oder Probeprüfungen sehr hilfreich, um das Format und die Anforderungen bekannt zu machen.

Beispiele für Gliederungsmuster[7]

Beispielaufgabe 1: Erläutern Sie das Konzept der Transtextualität anhand von drei Beispielen aus Italo Calvinos "Se una notte d'inverno un viaggiatore". Verfassen Sie einen kurzen Text im Umfang von 2.000 Zeichen. Für eine Beantwortung dieser Aufgabenstellung sind zwei Arbeitsschritte (Darstellung, Erläuterung) notwendig:

TextformInhalte
DarstellungWas bedeutet das Konzept Transtextualität? Wer hat es begründet? Welche Unterkategorien hat es?
Sprachliche Verknüpfung der beiden Teile ↑↓
ErläuterungZiehen Sie Beispiele aus dem Roman heran, um das Konzept zu illustrieren, und veranschaulichen Sie die Unterkategorien mit Beispielen.

Beispielaufgabe 2: Diskutieren Sie das von Kimberlé Crenshaw eingeführte Konzept der "Intersektionalität". Verfassen Sie einen sichtbar gegliederten Text (Absätze) im Umfang von +/- 3.000 Zeichen. Achten Sie darauf, die Absätze immer auch sprachlich zu verknüpfen. Für die Beantwortung sind mehrere Arbeitsschritte (linke Spalte) notwendig:

TextformInhalte
EinleitungLeser*innenorientierter und gegenstandsangemessener Einstieg mit z.B. Bezug auf historische Entstehungskontexte, aktuelle Wichtigkeit, Anliegen.
DarstellungWas bedeutet das Konzept?
MeinungsdarstellungEigene Meinung mit Bezug auf andere theoretische Positionen zum Konzept, zur Anwendung darstellen.
BegründungEigene Meinung begründen mit Bezug auf nachvollziehbare Argumente bzw. Kriterien.
SchlussMit Bezug zur Einleitung Ausblick formulieren, Perspektivne aufzeigen, Ergebnisse zusammenfassen.

Ausformulierte Aufgabenstellung samt Gliederungsmuster: Zur Illustration finden Sie im Folgenden die bereits bekannte Beispielaufgabe zum Thema Intersektionalität weiter ausformuliert und mit einem Gliederungsmuster versehen:

Liebe Studierende,

diese Aufgabe dient erstens dazu, das Zusammenwirken von unterschiedlichen Diskriminierungsformen in spezifischen Situationen zu analysieren und zweitens geht es darum, Ansätze des Intersektionalitätskonzepts auf konkrete Beispiele anzuwenden.

Verfassen Sie auf Grundlage eines Ausschnittes aus dem Film "Precious" von Lee Daniels aus dem Jahr 2009 (Minute 32:20 bis 33:59) eine Analyse zum Zusammenwirken der unterschiedlichen, im Film sichtbaren Diskriminierungsformen und verbinden Sie anschließend Ihre Analyse mit 2 theoretischen Konzepten, die Sie in der Lehrveranstaltung kennen gelernt haben. Zur Unterstützung finden Sie hier ein Gliederungsmuster für den Text:

TextformInhalte
EinleitungLeser*innenorientierter Einstieg, in dem das Konzept Intersektionalität kurz skizziert wird.
Sprachliche Verknüpfung ↑↓
Analyse des FilmausschnittsBenennen Sie unterschiedliche, im Film sichtbare Diskrimnierungsformen und stellen Sie dar, wie diese in der spezifischen Situation zusammenwirken.
Sprachliche Verknüpfung ↑↓
Synthese der Analyse mit den theoretischen KonzeptenVerbinden Sie Ihre Analyse mit 2 theoretischen Konzepten, die in der Lehrveranstaltung besprochen wurden.

Der Text soll in ganzen Sätzen verfasst sein und eine Länge von 3.000 bis 4.000 Zeichen exkl. Leerzeichen haben.

Der genannte Filmausschnitt wird zweimal hintereinander gezeigt. Es ist hilfreich, wenn Sie sich dabei Notizen machen.

Ich möchte Ihnen empfehlen, vor dem eigentlichen Schreiben ein Konzept Ihres Textes zu erstellen: Überlegen Sie, was Sie sagen wollen und wie Sie es argumentieren.

Starten Sie dann mit dem Verfassen Ihres Textes.

Die Bearbeitungszeit beträgt 35 Minuten.

Ich wünsche Ihnen gutes Gelingen!

Aufgabenstellung samt Gliederungsmuster zum Download

Quellen

[1] Bunn, Lothar. Klausuren erfolgreich bestehen. München: UKV Verlag, 2. Auflage 2019, 164.

[2] Bücker, Susanne, Meike Deimling, Janina Durduman, Julia Holzhäuser, Sophie Schnieders, und Maria Tietze. "Prüfung." In Gute Hochschullehre: Eine evidenzbasierte Orientierungshilfe: Wie man Vorlesungen, Seminare und Projekte effektiv gestaltet, herausgegeben von Michael Schneider und Maida Mustafić, 119-152. Berlin, Heidelberg: Springer Verlag, 2015, 131.

[3] Nilson, Linda B.. Teaching at ist Best. A Research-Based Resource for College Instructors. San Francisco: Jossey-Bass, 4th Edition 2016, 286f.

[4] Nilson, Teaching at ist Best, 285. [3]

[5] Die Methode "Brief an die Nachfolger*innen" stammt von Angelo, Thomas A., und Patricia K. Cross. Classroom Assessment Techniques: A Handbook for College Teachers. San Francisco: Jossey-Bass, 1993.

[6] Studien zeigen, dass Studierende sich auf Prüfungen mit Aufsicht und ohne Hilfsmittel ausführlicher vorbereiten als auf Prüfungen, die ohne Aufsicht geschrieben werden: Bengtsson, Lars. "Take-Home Exams in Higher Education: A Systemtic Review." Education Sciences 9, Nr. 4 (2019). doi.org/10.3390/educsci9040267 [letzter Zugriff am 29.06.2022]; Durning, Steven J. u. a. "Comparing Open-Book and Closed-Book Examinations: A Systematic Review." Academic Medicine 91, Nr. 4 (2016): 583-599. doi.org/10.1097/ACM.0000000000000977 [letzter Zugriff am 29.06.2022]

[7] Angelehnt an Bunn, Lothar. Klausuren erfolgreich bestehen. München: UKV Verlag, 2. Auflage 2019, 82-88. Hier finden Sie auch weitere Beispiele.

Empfohlene Zitierweise

Niederkofler, Heidi: Schriftliche Prüfungen mit offenem Antwortformat (3). Studierenden die Anforderungen begreiflich machen. Infopool besser lehren. Center for Teaching and Learning, Universität Wien, August 2022. [https://infopool.univie.ac.at/startseite/pruefen-beurteilen/schriftliche-pruefungen-mit-offenem-antwortformat/3-studierenden-die-anforderungen-begreiflich-machen/]

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