Beurteilung
Als Lehrende sind Sie wahrscheinlich mit der Situation vertraut, vor einem Stapel Prüfungen zu sitzen, seit Stunden daran zu arbeiten und immer wieder Zweifeln zu begegnen, ob Sie während des Prozesses strenger oder milder in der Beurteilung geworden sind. Beurteilung ist ein sehr herausfordernder Prozess, nicht zuletzt wegen der Komplexität der notwendigen Schritte. Dieses Kapitel zeigt Ihnen Wege, wie Sie den Beurteilungsprozess möglichst fair und effizient gestalten können. Die ineinandergreifen Handlungen sind dabei aus Darstellungsgründen einzeln und konsekutiv angeführt.
1. (Faires) Lesen der Prüfungen
Das Lesen der Prüfungen ist der erste Schritt im Beurteilungsvorgang. Um etwaigen unfairen Tendenzen in der Bewertung aufgrund von Ärger, Ermüdung und positiven wie negativen Erwartungen (hier finden Sie mehr zu Beurteilungsfehlern und -tendenzen) zu begegnen, gehen Sie am besten überlegt und strukturiert vor. Als hilfreich haben sich folgende Vorgehensweisen erwiesen:
- Lesen Sie zur ersten Einstimmung einige zufällig ausgewählte Prüfungsbearbeitungen von Studierenden durch, um einen Eindruck der Qualität und der Unterschiedlichkeit der Antworten zu bekommen und um die Angemessenheit Ihres Bewertungsschemas zu überprüfen.[1]
- Versuchen Sie, die Prüfungen zu lesen, ohne auf die Namen der Studierenden zu achten. Sie können in der Prüfungsgestaltung bereits entsprechend planen, indem z. B. Studierende nur ihre Matrikelnummer angeben oder ihren Namen auf die letzte Seite schreiben (statt wie üblich auf die erste Seite).
- Bei Prüfungen mit mehreren Aufgabenstellungen: Lesen Sie in einem Durchgang alle Antworten einer Aufgabe und bewerten Sie diese, bevor Sie die Antworten der nächsten Aufgabe lesen, d. h. Sie gehen nach Aufgabe vor statt nach Person. So können Sie sich auf ein Thema fokussieren und vermeiden die Anstrengung, sich immerzu in wechselnde Themengebiete eindenken zu müssen. Zudem unterstützt diese Vorgehensweise eine möglichst einheitliche Beurteilung sicherzustellen.
- Beurteilen Sie neben der inhaltlichen Qualität auch die kommunikative und formale Qualität (z. B. Textaufbau, Verwendung von Fachbegriffen, Textrichtigkeit), so berücksichtigen Sie beim Lesen beide Aspekte möglichst getrennt voneinander. Eine Möglichkeit ist, hier mit verschiedenfarbigen Markierungen bzw. Kommentaren zu arbeiten.
- Wenn mehrere Lehrende beurteilen, so sollten alle Bearbeitungen einer Aufgabe von ein und derselben Person gelesen und beurteilt werden. So erhöhen Sie die Fairness der Beurteilung.
- Achten Sie darauf, ausreichend Pausen zu machen, um ermüdungsbedingte Schwankungen in der Bewertung zu minimieren.
2. Bewertung
Für die Bewertung der Qualität der Aufgabenbearbeitung brauchen Sie Kriterien. Da Studierende bei schriftlichen Prüfungen mit offenen Antwortformaten relativ viel Freiheit in der Beantwortung haben, ist eine objektive Bewertung sehr herausfordernd. Aus diesem Grund empfehlen wir, mit Musterlösungen und Kriterienrastern zu arbeiten; zudem verringert sich Ihr Bewertungsaufwand. Vor allem, wenn mehrere Lehrende oder Tutor*innen in die Bewertung eingebunden sind, ermöglichen Musterlösungen bzw. Kriterienraster eine konsistente Vorgehensweise und erhöhen die Reliabilität.
2.1. Musterlösungen
Diese sind vor allem sinnvoll bei Aufgabenstellungen, die kurze und standardisierbare Lösungen bzw. Antworten erfordern.
Beispiel einer Musterlösung
Aufgabenstellung | Musterlösung |
---|---|
Definieren Sie den Begriff Intersektionalität. | Intersektionalität beschreibt das Zusammenwirken verschiedener Machtverhältnisse wie z. B. Sexismus, Klassismus, Altersdiskriminierung. |
2.2. Kriterienraster
Bevor Sie einen Kriterienraster erstellen, überlegen Sie folgende Punkte:
- Was sind Ihre Anforderungen an die Beantwortung der Aufgabenstellung? Welche Kriterien sind hier relevant? Bewerten Sie neben der inhaltlichen Ausarbeitung auch die kommunikative und die formale Qualität?
- Wenn es mehr als ein Kriterium gibt: Welche Gewichtung haben diese, in welchem Verhältnis stehen die Kriterien zueinander?
- Wie viele qualitative Niveaustufen finden Sie sinnvoll? Auf der einen Seite erhöht eine geringe Anzahl die Zuverlässigkeit, auf der anderen Seite sind differenziertere Stufen eine gute Grundlage für ein eventuelles Feedback an die Studierenden. Achten Sie jedenfalls aufeine klare Differenzierung zwischen den Niveaustufen, um eine eindeutige Einordnung zu ermöglichen, aber auch, um die Unterschiede der Prüfungsleistungen abzubilden. Drei bis fünf Stufen sind in der Regel praktikabel.[2]
- Wollen Sie die Erfüllungsgrade für jedes der genannten Merkmale ausformulieren oder Platz für individuelle Kommentare lassen?
- Werden Sie das Kriterienraster auch als Instrument zur Rückmeldung an die Studierenden nutzen? Falls ja, achten Sie auf die gewählten Begriffe zu und nutzen Sie eine motivierende Sprache.
Selbstverständlich ist es aufwendig, ein Kriterienraster zu erstellen: Sie müssen Kriterien überlegen und gegebenenfalls gewichten, Niveaustufen entwickeln und vielleicht auch die Erfüllungsgrade ausformulieren. Empfehlenswert ist, das Kriterienraster nach dem erstmaligen Einsatz bei einer Prüfung bei Bedarf zu modifizieren und anzupassen.
Beispiel eines Kriterienrasters mit vier ausformulierten Niveaustufen zu folgender Aufgabenstellung (siehe hierzu auch Abschnitt 3 Studierenden die Anforderungen begreiflich machen, Beispielaufgabe 2 samt Gliederungsmuster). Das folgende Kriterienraster eignet sich auch zur Weitergabe an Studierende, gegebenenfalls mit entsprechenden Anpassungen:
Diskutieren Sie das von Kimberlé Crenshaw eingeführte Konzept der "Intersektionalität". Präsentieren Sie dazu das Konzept und stellen Sie Ihre Meinung mit Bezug auf andere theoretische Positionen dar. Verfassen Sie einen sichtbar gegliederten Text (Absätze) mit Einleitung und Schluss im Umfang von +/- 3.000 Zeichen.
Exzellent | Kompetent | Teilweise kompetent | Noch nicht kompetent | Bemerkungen | |
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Inhaltliche Qualität 70% |
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70 Punkte | 70-60 | 59-48 | 47-36 | ≤35 | |
Kommunikative und formale Qualität 30% |
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30 Punkte | 30-26 | 25-20 | 19-16 | ≤15 |
Tipp: Um die eigene Reliabilität (Zuverlässigkeit) zu kontrollieren, ist es hilfreich, eine Stichprobe der Prüfungen zu ziehen und diese doppelt zu bewerten, einmal zu Beginn des Bewertungsprozesses und schließlich am Schluss.
3. Benotung und Feedback
Nachdem Sie die Qualität der Prüfungsleistung anhand der Bewertungskriterien gemessen haben, nehmen Sie auf dieser Grundlage die Benotung vor.
3.1. Feedback
Auch Noten sind ein Feedback an Studierende. Da sie aber eine wenig differenzierte und kaum qualitative Aussagekraft haben, empfehlt sich eine ausführlichere schriftliche oder mündliche Rückmeldung. Feedback auf Prüfungsleistungen kann - wenn es sachlich, aufgabenbezogen und verbesserungsorientiert formuliert ist - Studierende bei einem besseren Verständnis des Stoffes und der wissenschaftlichen Arbeitsweisen unterstützen. Dieser Kommunikationsprozess ist komplex, da hierbei strukturell ambivalente Funktionalitäten von Prüfungen zusammentreffen: Vordergründig ist bei Prüfungen meist die selektive Funktion (Legitimation zu weiterführenden Schritten im Studium auf Basis der Prüfungsleistungen). Prüfungen haben jedoch auch eine didaktische Funktion (Förderung des studentischen Lernens und der Motivation), die insbesondere im Feedbackprozess stärker relevant wird. Lehrende, die zugleich Prüfende sind, nehmen daher bei der Notengebung wie auch beim Geben von Feedback auf Prüfungsleistungen Rollen ein, die strukturell widersprüchlich sind und in der Zeitgleichheit als besonders herausfordernd empfunden werden.[3] (Hier finden Sie mehr zu Feedback durch Lehrende)
Auch für Studierende ist das Annehmen von Feedback auf Prüfungsleistungen herausfordernd: Institutionelle Machtverhältnisse und disziplinäres (Nicht-)Wissen sind mit Bewertung und Sanktionierung verknüpft, was eine angstfreie Kommunikation erschwert. Besonders für weniger privilegierte Studierendengruppen oder bei nicht bestandenen Prüfungen kann die Kommunikation angst- und schambesetzt sein.[4]
Um die lernförderlichen Aspekte des Feedbacks zu stärken, ist es demnach wichtig, Feedback auf Prüfungsleistungen als komplexen Kommunikationsakt zu betrachten, der innerhalb eines spezifischen sozialen Beziehungsgeschehens stattfindet.[5] Die strukturellen Rahmenbedingungen können Sie nicht verändern: Als Lehrperson haben Sie sowohl eine lehrende wie auch eine prüfende Rolle. Die Beziehungsebene ist jedoch gestaltbar: Sie können bereits zu Beginn des Semesters darauf hinwirken und eine Lehrveranstaltungskultur schaffen, in der annehmbares Feedback möglich ist. Ein wichtiger Bestandteil dafür ist Ihr merkliches Vertrauen in die Studierenden[6], dass diese die Lernziele erreichen können (ausführlicher dazu hier).
Feedback in prüfungsimmanenten (pi LVs) und in nicht-prüfungsimmanenten Lehrveranstaltungen (npi LVs)
Prüfungsimmanente Lehrveranstaltungen bieten aufgrund der Teilleistungen strukturell mehrere Ansatzpunkte für Feedback:
- Der Übungscharakter von prüfungsimmanenten Lehrveranstaltungen schafft sowohl bei formativen wie auch bei summativen Leistungsüberprüfungen Feedbackgelegenheiten.
- Die Verteilung der Teilleistungen über das Semester ermöglicht mehrfaches Feedback - und trägt damit zum Aufbau einer Feedbackkultur bei.
- Der dialogische Charakter von Feedback kommt bei aufeinander aufbauenden Teilleistungen gut zum Vorschein: Lehrende erhalten einen Eindruck davon, wie Studierende das Feedback aufnehmen, interpretieren und verarbeiten. Studierende haben die Möglichkeit, Nachfragen zu stellen und Missverständnisse zu klären (ausführlich zum dialogischen Charakter von Feedback).
- Feedback ist ein aufwendiger Prozess. Setzen Sie bei passenden Gelegenheiten zeitsparende Varianten wie Peer-Feedback oder Gruppenfeedback ein.
In nicht-prüfungsimmanenten Lehrveranstaltungen findet die Prüfung in der Regel gegen Semesterende statt, daher ist das Feedback an Studierende eng mit der Beurteilung verknüpft. Hier finden Sie einige Möglichkeiten für schriftliches Feedback auf Prüfungsleistungen, die Sie gemeinsam mit der Beurteilung übermittelt können:
- Angabe der erreichten Punkte bzw. Prozente je Aufgabe kombiniert mit kurzen Anmerkungen. Diese wenig aufwendige Rückmeldung ermöglicht den Studierenden, ihre Leistung einzuordnen (ausführlicher zum zusammengefassten Feedback).
- Rückmeldung an die Studierenden mittels ausgefülltem Kriterienraster.
- Bei Aufgaben mit standardisierten Antworten bzw. Lösungen: Eine hilfreiche Rückmeldung ist, wenn nicht nur die Fehler markiert werden, sondern auch die erwartete Lösung gezeigt wird (Musterlösung).
Schließlich ist auch die Prüfungseinsicht[7] eine Gelegenheit, um den Studierenden Rückmeldung auf ihre Prüfungsleistung zu geben. Hilfreiche Werkzeuge für Sie sind hierbei Kriterienraster bzw. Musterlösungen (ausführlicher zu Feedback während der Prüfungseinsicht). Prüfungseinsicht bietet den Studierenden eine gute Gelegenheit, aus den gemachten Fehlern zu lernen bzw. die Prüfungsanforderungen und damit auch die Lernziele besser zu verstehen.
TIPP: Zur Vorbereitung, Durchführung und Nachbereitung der Prüfungseinsicht können Sie Ihre Studierenden auf das Merkblatt Prüfungseinsicht für Studierende verweisen.[8]
Themenübersicht "Schriftliche Prüfungen mit offenem Antwortformat"
Quellen
[1] Bücker, Susanne, Meike Deimling, Janina Durduman, Julia Holzhäuser, Sophie Schnieders, und Maria Tietze. "Prüfung." In Gute Hochschullehre: Eine evidenzbasierte Orientierungshilfe: Wie man Vorlesungen, Seminare und Projekte effektiv gestaltet, herausgegeben von Michael Schneider und Maida Mustafić, 119-152. Berlin, Heidelberg: Springer Verlag, 2015, 127.
[2] Stevens, Dannelle D., und Antonia J. Levi. Introduction to Rubrics. An Assessment Tool to Save Grading Time, Convey Effective Feedback, and Promote Student Learning. Sterling: Stylus Publishing 2013, 7 ff. Stevens und Levi empfehlen, bei der Konstruktion eines neuen Kriterienrasters mit drei Niveaustufen zu beginnen, und nach der ersten Anwendung bei Bedarf auf mehr Stufen auszubauen.
[3] Reinmann, Gabi. "Prüfung oder Assessment an Hochschulen? Thesen für einen Wandel der Prüfungskultur." In Kompetent Prüfungen gestalten. 60 Prüfungsformate für die Hochschullehre, herausgegeben von Julia Gerick, Angela Sommer und Germo Zimmermann, 22-36. Münster: Waxmann Verlag, 2. Auflage 2022; Hainschink, Vera., und Rim Abu Zahra-Ecker. "Leben in Antinomien. Bewältigungsdispositionen aus arbeitsbezogenen Verhaltens- und Erlebensmustern." Pädagogische Horizonte 2, Nr. 2 (2018): 179-194.
[4] Yeager, David S., Valerie Purdie-Vaughins, Julio Garcia, Nancy Apfel, Patti Brzustoski, Allison Master, William T. Hessert, Matthew E. Williams, und Geoffrey L. Cohen. "Breaking the Cycle of Mistrust: Wise Interventions to Provide Critical Feedback Across the Racial Divide." Journal of experimental psychology 143, Nr. 2 (2014): 804-824.
[5] Higgins, Richard, Peter Hartley, und Alan Skelton. "Getting the Message Across: the problem of communicating assessment feedback." Teaching in Higher Education 6, Nr. 2 (2001): 269-274.
[6] Yeager et al., "Breaking the Cycle of Mistrust: Wise Interventions to Provide Critical Feedback Across the Racial Divide.", 804-824.
[7] Studierende haben einen (zeitlich begrenzten) Rechtsanspruch auf eine Prüfungseinsicht, vgl. Universitätsgesetzt 2002, § 79 (Konsolidierte Fassung: www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe)
[8] Niederkofler, Heidi. "Prüfungsmisserfolg auf die Agenda! Ansätze an der Universität Wien." Zeitschrift für Hochschulentwicklung 17, Heft 1 (2022): 35-446. zfhe.at/index.php/zfhe/article/view/1594 [letzter Zugriff am 29.06.2022]
Empfohlene Zitierweise
Niederkofler, Heidi: Schriftliche Prüfungen mit offenem Antwortformat (4). Beurteilung. Infopool besser lehren. Center for Teaching and Learning, Universität Wien, August 2022. [https://infopool.univie.ac.at/startseite/pruefen-beurteilen/schriftliche-pruefungen-mit-offenem-antwortformat/4-beurteilung/]
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